Kanalüberquerung Dover – Calais im Jahre 1979
EUROPEAN CROSS CHANNEL CANOE EXPEDITION 1979
oder
Die friedliche Invasion
Der Ärmelkanal, auch Englischer Kanal genannt, stellt eine der außergewöhnlichsten Wasserstraßen der Welt dar. Von Nordost betrachtet könnte man die am stärksten befahrene Meerenge der Welt als trichterförmigen Vorhof zum Atlantischen Ozean bezeichnen. Durch den enormen Tidenhub von maximal 11 Metern werden hier tückische, unberechenbare Strömungen erzeugt, und bereits mäßig starke Winde können die Wassermassen in sehr kurzer Zeit in einen wahren Höllenkessel verwandeln.
Chronisten verschiedener Epochen berichteten über Ereignisse im Bereich dieses Seegebietes, und es waren dies überwiegend Aufzeichnungen von Katastrophen. So bekam der große Julius Cäsar im Jahre 55 v. Chr. den Zorn des Kanals zu spüren, als er· zwei Legionen nach Britannien hinüberschickte. Ein wenig mehr Glück hatte im Jahre 1066 Wilhelm der Eroberer, der sich von der Normandie aus mit einer riesigen Flotte über die englische Küste hermachte. Der berühmten spanischen Armada erging es dagegen sehr schlecht in der Meerenge; Sturm und hoher Seegang trieb ihre Schiffseinheiten auseinander, versetzten ihr somit den Gnadenstoß. Doch das bisher gigantischste Unternehmen ereignete sich im Jahre 1944: die Landung der alliierten Streitkräfte an der französischen Kanalküste.
So, das war ein bescheidener geschichtlicher Abriss unseres Fahrtgebietes, mit Riesenschritten durchlaufen, versteht sich. Wir befinden uns nun wieder in der Gegenwart, schreiben den 17. Aug. 1979 und sind freudig gespannt auf die für den 19. August angesetzte Kajak-Expedition über den Ärmelkanal. Wir, damit sind ein Teil der gemeldeten 59 Teilnehmer und der Schreiberling dieses Berichtes gemeint, befinden uns vor dem Rathaus von CaIais und warten. Warten auf die noch nicht eingetroffenen Kameradinnen und Kameraden der „Continental- Crew“. Es regnet zeitweilig; das Rodin-Denkmal sowie die bronzenen „Bürger von Calais“ glänzen vor triefender Nässe. Endlich wagt sich ein aufmunternder Sonnenstrahl durch den tristgrauen Himmel. Nach und nach, fast im Gleichlauf zu den wenigen Sonnenstrahlen, treffen die restlichen Kanuten am Sammelplatz ein.
Doch unser „Chef“, Leiter der belgisch-deutsch-französischen Gruppe, Kamerad Prof. Dr. Rohmann, wird noch vermisst. Ein Spaßvogel meint mit rheinischem Dialekt dazu: ,,Der wird den Kanal schon ‚mal von Ost nach West durchpflügen – Vorfahrt, ha, ha!“
Als dann die englische Besatzung des Camps auf französischem Boden anrollt, um uns zum Zeltplatz zu geleiten, hat das Warten ein Ende gefunden.
Ein wenig später: Auf dem von Hecken und Bäumen umgebenen Wiesengelände eines großen Bauernhofes (Ferme Salines) bei Sangatte, unmittelbar neben der Küstenstraße Calais-Boulogne gelegen, sind bald darauf die Zelte errichtet. Vor dem Küchenzelt versammelt man sich zur Entgegennahme des Abendbrotes und natürlich auch zum Plaudern (inzwischen ist auch der letzte Teilnehmer eingetroffen). Ja, das Plaudern ist gar wichtig, zumal sich einige Kameraden von anderen gemeinsamen Fahrten her mehr oder weniger gut kennen. ,,Mensch, den Typ kenn‘ ich doch von…“. Man kommt sich jedenfalls rasch näher, ist froh, solch einer wild zusammengewürfelten Gruppe europäischer Prägung anzugehören.
Zum Tagesausklang sieht man bald darauf fast alle Campbewohner in einer nahe-weit entfernten Gaststätte bei Bier, Rotwein und schmackhaft zubereiteten Miesmuscheln. Und viele, viele Storys werden vom Stapel gelassen. Das große Kanuten- Latinum ist zum Verständnis derselben unbedingt notwendig.
Zum Wohle, Prost, Kameraden aus Belgien, England, Frankreich und Deutschland, möge unser gemeinsames Unternehmen erfolgreich durchgeführt werden können!!!
In der Nacht zum 18. August hat es tüchtig geregnet, in den Bäumen und Sträuchern rauschte heftig der Wind und auch das monotone Geräusch der Brandungswellen war zeitweilig wahrnehmbar.
Doch als wir uns gegen 10 Uhr in einer mit Booten beladenen Autokarawane dem Fährhafen von Calais nähern, hat Petrus schließlich ein Einsehen mit den auf günstiges Wetter hoffenden Kanuten. Wir haben dem alten ehrbaren Herrn sicherlich keinen Anlass zum Grollen gegeben oder?
Den weiteren Verlauf des Tages gebe ich nun im Telegrammstil wieder:
12.00 Uhr – Am Pier der Fährlinie „Sealink“ Townsend Thorensen im Hafen von Calais; Verladen der Boote nach Dover.
12.45 Uhr – Abfahrt der Fähre. Während Überfahrt Besichtigung der Kommandobrücke mit Kartenraum.
14.00 Uhr – Empfang unserer „Continental Crew“ am Zoll von Dover. Transport zum engl. Camp „National Scout Camp Kingsdown“ bei Deal (Kent). Aufbau der Zelte und Faltboote; strenge Überprüfung der Boote sowie Ausrüstungsgegenstände.
18.00 Uhr – Abendessen aus der Lagerküche.
19.00 Uhr – Detaillierte Einsatzbesprechung mit Capt. David Church (Kanallotse) und anderen Mitgliedern der „League of Young Adventurers“.
Wird das Wetter morgen günstig sein, wird die Fahrt nach Frankreich hinüber durchgeführt werden können?
Hierauf kann heute noch keine konkrete Antwort gegeben werden. Was die Abhängigkeit vom Wetter betrifft, kann unser geplantes Unternehmen als „Kanutisches Roulett“ bezeichnet werden. Ich glaube aber, dass der Unsicherheitsfaktor „Wetter“ dieser Fahrt eine ganz besondere Note, unserer Mannschaft einen besonderen Nervenkitzel beschert. Warten wir’s also geduldig ab.
Ja, das dürfte die richtige Einstellung sein! Zunächst einmal suchen wir daher im nahegelegenen Kingsdown einen typischen ,,Pub“ auf und kosten verschiedene Sorten englischen Bieres. Der Gerstensaft beruhigt zusehends, läßt andere Themenkreise in die lustige Tafelrunde einfließen.
Gegen Mitternacht wird schließlich das Camp aufgesucht, um für die in sieben Stunden hoffentlich beginnende Fahrt fit zu sein.
Aus der über dem Kanal lagernden Dunkelheit dringt, einem Hoffnungsschein gleich, vom 10 km entfernten Feuerschiff ,,South Goodwin“ Licht zum Camp herüber. Ein gutes Omen für morgen? – Hoffentlich!
Heute ist Sonntag, der 19. August 1979. Es ist noch früh am Morgen, fünf Uhr, als das „Große Wecken“ mit fröhlichem Trompetengeschmetter erfolgt. Dieses Wecken wird wie ein erlösendes Signal empfunden, weil die bohrende Ungewissheit mit einem Schlag beseitigt ist. Heute erfolgt also der Start – Hurra!!!!!
Rasch werden Zelte und Habseligkeiten zusammengepackt. Auch einer „Katzenwäsche“ unterzieht man sich – immerhin. Anschließend, so gegen 6 Uhr, gibt’s Frühstück: ,,Hundekuchen“ mit Milch, Spiegeleier mit gebratenem Speck und Tee. Dermaßen gestärkt geht’s dann endlich mit den Booten hinunter zum steinigen Strand, wo nun ungeduldig auf das Startzeichen des Lotsen gewartet wird.
Schwacher Wind und mäßiger Wellengang lassen den Lotsen sicherlich nicht zögern, uns auf die Reise zu schicken. Es ist vielmehr der über dem Wasser liegende Dunst, der ihm nicht zu gefallen scheint. Die Sicht beträgt nur etwa eine Seemeile, sehr wenig für die am stärksten befahrene Wasserstraße der Welt! -Was nun?
Da, das Startzeichen!
Im Handumdrehen befinden sich sämtliche Boote auf dem Wasser der St. Magarets Bay. Rasch geht es voran, die ruhige Wetterlage muß unbedingt ausgenutzt werden. Eine friedliche Armada bewegt sich in Richtung SO, der fernen französischen Küste entgegen. Schon bald ist die achteraus liegende steile Kreideküste nur noch schwach durch den Dunst hindurch zu erkennen, um dann schließlich gänzlich aus dem Blickfeld zu verschwinden.
Allmählich löst sich der Dunst auf. Zunächst schemenhaft, dann klar erkennbar, kommt das etwa 10 km vor der englischen Küste liegende Feuerschiff „South Goodwin“ rechts voraus in Sicht; wie ein Geisterschiff, dem „Fliegenden Holländer“ gleich, dümpelt es in der Dünung.
Unsere Flottille, von Sicherungsbooten flankiert, hat sehr gute Fahrt gemacht. Allerdings befinden sich einige Boote ein gehöriges Stück hinter dem Mittelfeld. Werden sie bei dieser Geschwindigkeit wieder Anschluss finden? Nun, die Verantwortlichen zeigen viel Verständnis, vermindern vorübergehend das Tempo, um das hintere Feld aufschließen zu lassen.
Schwacher Wind kommt auf, kräuselt die Wasseroberfläche. Mäßige, langgezogene Dünungswellen verursachen eine angenehme „Berg- und Talfahrt“. Angenehm? Sicherlich nicht für alle Teilnehmer, da vereinzelt die typischen Symptome der Seekrankheit auftreten.
Die von dieser klassischen, uralten Krankheit befallenen Kameraden kämpfen mutig gegen sie an; versuchen es mit Humor, Gesang und zahlreichen anderen Ablenkungsmanövern. Aber es ist einfach zuviel Bewegung spür- und sichtbar: das eigene Boot bewegt sich auf und ab, man sieht die vorausfahrenden Boote in ein Wellental hinabgleiten oder oben auf einer Welle reiten, und die Mastspitzen der Begleitkutter schwingen stark von einer Seite zur anderen. All‘ dies sind Wahrnehmungen, die einer Seekrankheit bestens Vorschub leisten. Neptun fordert unbarmherzig Tribut, einige der Gepeinigten müssen sogar aufgeben.
Stunde um Stunde vergeht. Zeitweilig kommt sogar die Sonne hervor, löst die restlichen Dunstschleier auf. Riesige Tanker und Stückgutfrachter ziehen in größerem Abstand an uns vorbei. Ihre langen, recht hohen Wellen bekommen wir erst zu spüren, wenn sie fast wieder außer Sicht sind. Auch das imposante Passagierschiff „Norway“, einst unter dem Namen „France“ der Stolz der Franzosen, kreuzt gegen Mittag unseren Kurs. Luftkissenfähren donnern in der Ferne vorüber.
Unsere englischen Kameraden fahren dicht beieinander und stimmen muntere Songs an. Langeweile kommt eigentlich gar nicht auf. Das kein Land in Sicht ist und sich der Horizont nur unscharf abzeichnet, wird nicht als unangenehm empfunden, ist normal für eine derartige Fahrt.
Aber auf ein Problemchen, bei längeren Törns immer wiederkehrend, sei an dieser Stelle kurz hingewiesen: Wie kann man das ,,Kleine Geschäft“ auf See erledigen, was ist zu unternehmen, um die gequälte Blase zu entlasten? Nun, an die Reling können wir Kleinbootfahrer uns leider nicht stellen – aber, es geht auch anders…
Blech-, Kunststoffdosen oder Schaumstoffunterlagen mit guter Saugfähigkeit leisten hier wirklich gute Dienste. Beide Medien lassen sich gut im Seewasser reinigen und bei Bedarf wieder verwenden. Na, dann!
Weiter geht’s –
Weitere Seekranke und Erschöpfte werden aufgepickt; für sie ist die Fahrt leider beendet, findet an Bord der Hochseekutter ihre Fortsetzung – Schade.
Man blickt nach vorn in den nun wieder aufkommenden Dunst hinein, dorthin, wo die französische Küste erwartet wird. Da, endlich, Land in Sicht! Doch entpuppt sich die vermeintliche Küste sogleich als Silhouette eines vorüberfahrenden Supertankers. Aber eine halbe Stunde später wird schließlich ein echter Küstenstreifen, eigentlich nicht mehr als eine verwaschene, unregelmäßige dunkle Linie, gesichtet. Später erfahren wir, dass es sich hierbei um die Gegend von Dünkirchen handelte, also ungefähr 30 Kilometer östlich von Calais. Die tidebedingte Abdrift hat unsere Flotte recht weit nach Nordost versetzt. Gesteuert wird nun SSW-Kurs, dem Zielstrand entgegen.
Etwa zwei Stunden später –
Blèriot-Plaqe, der weite Strand zwischen Calais und Sangatte liegt an Backbord voraus. Nur noch einige Dutzend Paddelschläge, dann ist die Brandungszone erreicht. Das Finale dieser Fahrt bilden die beiden Wellengürtel, die sich unserer friedlichen Invasionsflotte entgegenstellen. Ein kurzer rascher Schlagaustausch mit Neptuns Grenzwächtern, und schon sind sämtliche Boote nach 6 1/2stündigem Seetörn wohlbehalten am Sandstrand gelandet.
Nach einer sehr humorvollen Ansprache unseres Capt. Sammy Cole erhalten alle Teilnehmer aus seiner Hand gestickte Embleme. Ein jeder ist zufrieden, ein wenig stolz auf das gemeinsam gemeisterte Unternehmen. Anschließend sitzen wir noch bis in den späten Abend hinein beisammen.
Zahlreiche Flaschen Wein aus den verschiedensten Anbaugebieten machen die Runde, verbreiten Fröhlichkeit und regen an zu interessanten Gesprächen. Als dann eine schnaufende Quetschkommode Folklore- und Schlagermelodien von sich gibt, hört man nicht nur andächtig zu, sondern stimmt lautstark mit ein.
Ein schöner, erlebnisreicher Tag findet somit einen würdigen Ausklang.
= A h o i, auf W i e d e r s e h e n =
Offenbach am Main, September 1979
Dieser Bericht von Hans Berthold ist uns im Rahmen unserer Recherchen zum 50-jährigen Vereinsjubiläum in die Hände gefallen, denn es gab unter den 38 Paddlern mit Kurt Vögeler auch einen Teilnehmer der der CJD-Sportgemeinschaft Germersheim
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